Rede vom 12. November 2023

Grußwort der Ministerin zur Marbacher Schillerrede 2023

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Ministerin Petra Olschowski am Rednerpult im DLA Marbach

Der in Tansania geborene und in England lebende Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah hat am 12. November 2023 die Marbacher Schillerrede gehalten. Zu diesem Anlass begrüßte Petra Olschowski, Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg

- Es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrter Herr Professor Gurnah,
liebe Frau Professorin Richter  –
Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Ich freue mich sehr, Sie heute hier in Marbach begrüßen zu dürfen.

Seit 1999, also seit fast einem Vierteljahrhundert, nimmt das Deutsche Literaturarchiv den Geburtstag Friedrich Schillers zum Anlass, um zur „Marbacher Schiller-Rede“ einzuladen. Jedes Jahr hält diese Rede eine andere Person aus Kultur, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft – des öffentlichen Lebens also. Sie spricht zu einem Thema, das sie als Rednerin und Redner selbst bestimmen kann – der Bezug zu Schiller sollte allerdings hergestellt werden. Und da wir alle wissen, dass dessen Werk eine schier endlose Breite an Lesarten und Blickwinkeln eröffnet, ist es beinahe so etwas wie eine Carte blanche. 

Diese alljährliche „Schillerrede“ ist eine Tradition, der wir, die wir mit dem Deutschen Literaturarchiv verbunden sind, daher jedes Jahr mit Erwartung und Spannung entgegensehen.

Livestream zur Veranstaltung: Schillerrede 2023

Sehr geehrter Herr Gurnah!

Es freut uns sehr, dass Sie die Einladung zur diesjährigen Schiller-Rede angenommen haben. Mit Ihnen gewinnen wir eine bedeutende zeitgenössische und internationale Perspektive auf Schiller, auf die Literatur und auf die Welt. Eine, die über Zeiten, über Kontinente, Grenzen und Kulturen hinausgeht und die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet und in die Zukunft blickt. Man kann vielleicht sogar sagen: unsere Vergangenheit mit unserer Gegenwart und Zukunft verbindet.

Wir brauchen diese Vielfalt der Perspektiven heute ganz besonders, um uns in einer komplexen Welt, die eben nicht mit einem einzigen Narrativ, einem einzigen Blickwinkel zu erfassen ist, zu orientieren. Um uns auszurichten. Denn wir leben in einer Zeit mit starken ideologischen Konfrontationen, die nicht auf einzelne Staaten, insbesondere nicht auf Europa, begrenzt sind, sondern global ausgetragen werden.

Meine Damen und Herren –

Vor wenigen Tagen jährte sich nicht nur Schillers Geburtstag, sondern auch die Reichspogromnacht. In diesem Jahr haben wir vermutlich alle diesen Jahrestag sehr nachdenklich, ja viele sogar verzweifelt begangen. Die schreckliche Katastrophe, der Terroranschlag der Hamas auf Israel und die Kriegshandlungen im Nahen Osten, beunruhigen und bestürzen uns zutiefst. Unaussprechlich ist unsere Abscheu vor dem Terroranschlag der Hamas, der einen furchtbaren Krieg ausgelöst hat.

Groß ist unser Mitgefühl mit den Angehörigen der Opfer und der Geiseln in Israel. Groß ist unser Mitgefühl mit der Zivilbevölkerung in Gaza. Groß ist unser Mitgefühl für all die Menschen, die sich – wo auch immer in der Welt (insbesondere hier bei uns in Deutschland) – aufgrund dieses Konflikts nicht mehr sicher fühlen können. Groß sind auch unsere Not und Ratlosigkeit, wie dieser Konflikt, der schon viel zu viele Menschenleben gefordert hat, gelöst werden kann.

Meine Damen und Herren,

man kann angesichts dieser furchtbaren Lage sicher viele Blickwinkel auf Schiller haben. Man könnte über die Freiheit reden, die ihm so wichtig war, die Gedankenfreiheit, und darüber, an wie vielen Orten dieser Welt des frühen 21. Jahrhunderts sie gerade wieder bekämpft und geopfert wird.

Seltsamerweise ist mir ein Satz aus der Jungfrau von Orléans in den Sinn gekommen. Er heißt: „Leicht aufzuritzen ist das Reich der Geister./ Sie liegen wartend unter dünner Decke.“

Es scheint mir gerade so, als würden die bösen Geister des 20. Jahrhunderts, die wir weitgehend für aufgearbeitet gehalten haben, nur wartend unter dünner Decke gelegen haben und jetzt wieder ihr katastrophales Spiel betreiben.

Sehr geehrter Herr Gurnah,

die Spuren und Folgen der Vergangenheit aufzudecken, sind ein Leitmotiv, ja die tiefe Motivation Ihres literarischen Schaffens. 2021 wurden Sie mit dem Literaturnobelpreis geehrt für Ihre - so die Begründung - "kompromisslose und mitfühlende Durchdringung der Auswirkungen des Kolonialismus und des Flüchtlingsschicksals im Graben zwischen den Kulturen und Kontinenten."

Ihre Werke erzählen uns von Unterwerfung und kultureller Entfremdung, von Entwurzelung und erzwungener Migration.

Sie sprechen auch von der deutschen Kolonialherrschaft in Ostafrika. Sie ist ein Teil der Geschichte dieses Landes, der in den letzten Jahren verstärkt in unser kollektives Bewusstsein gerückt ist (allen früheren Verdrängungsversuchen zum Trotz). Sie nimmt seither in der politischen und kulturellen Debatte großen Raum ein – nicht zuletzt, weil sie einer dieser „Geister“ ist, von denen ich sprach, und weil wir ihre Spuren und Folgen bis heute erfahren und erleben. Weil wir Verantwortung dafür zu tragen haben.

Vor wenigen Tagen war der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Tansania und hat die Opfer der deutschen Kolonialherrschaft um Vergebung gebeten. Er sagte: „Wer in Deutschland mehr über deutsche Kolonialgeschichte weiß, muss auch heute noch entsetzt sein über das Ausmaß der Grausamkeit, mit der die deutsche Kolonialbesatzung vorgegangen ist… Es beschämt mich!“

Man mag sagen, dass diese Entschuldigung sehr spät kommt. Zu Recht. Aber ich bin Bundespräsident Steinmeier sehr dankbar für seine klare Positionierung und sein deutliches Statement.

Dass dieser Teil unserer Geschichte so stark in die Öffentlichkeit gerückt ist, verdanken wir auch Ihnen, Herr Gurnah. Dass die Stimmen der Unterdrückten – über die Jahrhunderte und die Kontinente hinweg – gehört werden, ist ein wichtiger Beitrag Ihrer Literatur. Mit Ihren Werken ist es gelungen, die Perspektive derjenigen, die vom Kolonialismus unmittelbar betroffen waren, für uns als Leserinnen und Leser erlebbar werden zu lassen.

Ihr Werk zeigt, dass nicht nur in den Geschichtsbüchern und in den Debatten an Universitäten, in der Kulturszene und in der breiteren Öffentlichkeit, sondern auch in der Literatur ein Schlüssel dafür liegen kann, die Vergangenheit und ihre Verflechtungen mit der Gegenwart tatsächlich auf verschiedenen Ebenen reflektieren zu können.

Die Literatur kann hier ihre große Stärke ausspielen: Sie lässt uns das Leben anderer Menschen in anderen Ländern und Zeiten nachempfinden. Es ist eine Art Gespräch, in das wir als Leserin und Leser eintauchen, eine Zwiesprache über Zeit und Raum hinweg, manchmal sogar ein Rollentausch in der Fantasie. Im besten Sinn erweitert Literatur unseren Horizont, schärft unsere Empfindungsfähigkeit, eröffnet Perspektiven. Sie verändert uns!

Bezieht man das auf Ihr literarisches Werk, bedeutet es konkret: Ihre Bücher tragen dazu bei, die äußerst komplexe Wirklichkeit kolonialer Erfahrung ebenso wie die tiefe kulturelle Durchdringung und Nachwirkung von kolonialer Repression und Gewalt zu begreifen – auch unsere Verantwortung dafür.

Wir arbeiten in Baden-Württemberg und Deutschland intensiv an der Auseinandersetzung mit unserer Kolonialgeschichte. Ebenso wie beim Antisemitismus, ist es unser Anspruch, jeder Form von Rassismus und Diskriminierung entgegenzutreten, in denen koloniale Denkkategorien bis heute fortwirken.

In Baden-Württemberg suchen wir den Austausch mit den Ländern des afrikanischen Kontinents: zwischen Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Künstlerinnen und Künstlern, Museumsexpertinnen und - experten, zu Themen der Vergangenheit ebenso wie zu den Herausforderungen der Gegenwart.

Es ist uns wichtig, die unterschiedlichen Sichtweisen und Blicke auf die Welt anzuerkennen und in unseren Institutionen sichtbar zu machen.

Sehr verehrter Herr Gurnah, verehrte Damen und Herren –

Die aktuellen Kriege und Konflikte in der Ukraine, in Nahost, in Westafrika und an anderen Orten dieser Welt bewegen uns zutiefst. Es sind Konflikte, die ausgelöst sind durch Fanatismus, Ideologie, Religion, durch wirtschaftliche und militärische Ungleichgewichte und Interessen, durch Herrschafts- und Machtgier, durch Unterdrückung und Bekämpfung freier Gesellschaftsformen.

Wir müssen anerkennen: in vielen dieser Konflikte wirken Entscheidungen aus der Vergangenheit und damit verbundene Verletzungen, Spannungen und Bruchlinien fort. Vielleicht haben wir das zu lang ignoriert, haben nicht sehen wollen, wie dünn die Decke war, die wir versucht haben, über etwas zu legen, über das keine Decke gelegt werden darf. Es sind auch unsere Geister hier in Deutschland, die uns jetzt einholen.

Ich bin davon überzeugt, dass wir es hier mit einer vielfältigen, vielschichtigen Vergangenheit zu tun haben und eben nicht mit der einen großen Geschichtserzählung. Der deutsche Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts ist im Kontext des europäischen Kolonialismus zu verstehen.

Und er führt auch – und davon schreiben Sie - in letzter Konsequenz in die größte aller Vernichtungsmaschinerien, die des Nationalsozialismus, in der Menschen insbesondere wegen ihres Glaubens, aber auch wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, ihres politischen Widerstands, ihrer sexuellen Orientierung millionenfach ermordet worden sind.

Ihre Arbeit, sehr geehrter Herr Professor Gurnah, öffnet unsere Augen und Ohren für die vielen Stimmen, denen wir zuhören müssen, wenn wir in eine bessere, friedlichere Zukunft gehen wollen.

Ich danke Ihnen, lieber Herr Gurnah, und Ihnen allen, meine Damen und Herren, dass Sie heute hier sind – an diesem Ort der Denkanstöße, an diesem Ort der Literatur!