Sehr geehrter Herr Kosminski,
sehr geehrte Frau Lösch,
sehr geehrter Herr Schmidt,
sehr geehrter Herr Michael Kashi,
sehr geehrte Bundestags- und Gemeinderatsmitglieder.
Herzlichen Dank an die BigBand des Mörike-Gymnasiums für die schöne Begrüßung und an Gabriele Hintermaier und Boris Burgstaller für die eindrucksvolle Lesung.
Ganz besonders begrüßen möchte ich alle Angehörigen und Nachkommen von Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die heute anwesend sein können – namentlich Familie Meher und Familie Miller – sowie die Akteurinnen und Akteure der Stuttgarter Erinnerungskultur.
Liebe Gäste,
Als ich vor einigen Monaten gefragt wurde, ob ich zum heutigen Jubiläum „20 Jahre Stolpersteine“ sprechen könne, habe ich mit Freude und Vorfreude zugesagt. Ich habe mir vorgestellt, dass wir in einer Atmosphäre zusammenkommen, die nachdenklich, aber zuversichtlich ist, in einer – wenn nicht Gewissheit, so doch einer Art Vertrauen darauf, dass die engagierte Erinnerungsarbeit, die wir in Deutschland seit 1945 machen, unsere Gesellschaft geprägt und gestärkt hat gegen rechtsextreme und gegen rassistische und gegen antisemitische Tendenzen. Dass diese Vorstellung falsch war und ist, ahnen wir nicht erst seit einer Woche. Viel zu viele Hinweise gab es längst. Aber seit einer Woche kann keiner mehr sagen: Ich habe es nicht gewusst. Und so ist die Rede, die ich heute halte, eine andere. Bitte verstehen Sie das! Es ist eine, in der mehr Verunsicherung steckt als Sicherheit. Eines allein meine ich zu wissen: All das, was wir getan haben, um aus Erinnerungsarbeit Gegenwarts- und Zukunftsarbeit zu machen, ist nicht genug. Und es erreicht bestimmte Gruppen unserer Gesellschaft nicht.
Wir alle haben die Bilder vom Angriff der Hamas auf Israel im Kopf. Es war kein Angriff, in dem es darum ging, Land zu erobern, Zugang zu Wasser zu sichern, Verbesserungen für das eigene Volk zu erreichen – und das alles wären inakzeptable Gründe gewesen. Es war ein brutaler, seit der Shoa nicht dagewesener Angriff auf Jüdinnen und Juden. Es war ein Angriff auf Familien, Kinder, alte Menschen, auf Menschen wie Ofir Libstein, Bürgermeister der Region Schaàr HaNegev, der über Jahre hinweg als Dialogpartner den engen Austausch Karlsruhes mit Israel organisierte. Er war Vater von vier Kindern. Gerade 50 Jahre alt. Es war ein Angriff auf Babys, Frauen, junge Menschen, die auf einem Musikfest zusammen feierten – und damit war es ganz bewusst auch ein Angriff auf eine Welt der freien Meinungsäußerung und der Freiheit von Kunst und Kultur. Und ich sage das ganz besonders deutlich an diesem Ort der Kultur, in diesem Haus der Kunst. Da kann man gar nichts schönreden. Das ist Hass, Wahn, Terror.
Und ich zitiere hier in diesem Theater, das Israel so verbunden ist wie kaum ein anderes Schauspielhaus in Deutschland, den Antisemitismusbeauftragten der Landesregierung Michael Blume: „Antisemitismus bekämpft man entweder überall oder man bekämpft ihn gar nicht.“ Und das, meine Damen und Herren, haben wir – oder lassen Sie mich direkt sagen: habe wenigstens ich in den letzten Jahren nicht immer so ernstgenommen, wie wir, wie ich es hätte nehmen müssen.
Wie sonst ist es zu erklären, dass dieser brutale Angriff auf unseren Straßen in Deutschland gefeiert wird. Ich bin fassungslos darüber und entsetzt – und zum Glück sind die demokratischen Parteien sich einig: „Wer Hass und Hetze verbreitet und jüdisches Leben bedroht, der wird die volle Härte unserer Gesetze spüren.“ So hat es Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, formuliert. Wie kann es sein, dass jüdische Familien in Deutschland Angst haben müssen, ihre Kinder in die Schule zu schicken? Ich bin nicht bereit, so eine Situation zu akzeptieren.
Aber das ist ja nicht alles! Wie ist bei all dem, was wir an Aufklärungsarbeit getan haben und tun, zu erklären, dass es bei Wahlentscheidungen in Deutschland kein Kriterium mehr ist, ob eine Partei rechtsextrem ist – wie Umfragen nach den Wahlen in Hessen und Bayern gezeigt haben. Welche Erfolge hatten unsere enormen Anstrengungen im Bereich der politischen Bildung, wenn wir insbesondere die jungen Menschen – knapp 20 Prozent der unter 30-Jährigen – nicht mehr erreichen mit dem, was wir für die zentralen Werte unserer Demokratie halten?
Leider müssen wir heute feststellen: Wir erreichen zu viele Menschen damit nicht. Heißt das: weniger Erinnerungskultur? Nein. Das heißt: mehr! Aber auch: Wir brauchen neue Wege, andere Formate, gerade in einer Zeit, in der es fast keine Zeugen des Nazi-Terrors mehr gibt. Wir müssen stärker den Blick aus der Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft richten.
Als in Deutschland 1992 die ersten Stolpersteine verlegt wurden, war das genau so ein neuer Ansatz, ein starkes Signal in seiner Zeit. Es holte das Gedenken, die Erinnerung aus den speziell dafür eingerichteten Stätten – oft außerhalb der Stadtzentren gelegen – mitten hinein in Städte und Ortschaften. Auf die Straße. In den Alltag von jedem und jeder.
Vor 20 Jahren startete die Stuttgarter Initiative. Und es gibt keinen Zweifel: Die Stolpersteine prägen unser Stadtbild, unser Leben, unseren Gang aus dem Haus, zum Bäcker, ins Büro, ins Theater – jeden einzelnen Tag.
Es gibt mehr als 80 Gedenkstätten in Baden-Württemberg. Sie informieren und verhindern das Vergessen. Sie dienen als Mahnung und Aufklärung, und sie zeigen im Aufzeigen des Unterschieds, wie eine auf unseren demokratischen Werten basierende Gesellschaft aussieht. Sehr sehr viele dieser Orte und Initiativen werden von ehrenamtlichem Engagement getragen. Und wenn ich vorhin meine Trauer, meine Zweifel, meine Not angesichts der aktuellen Ereignisse formuliert habe – hier ist meine Hoffnung, mein Zutrauen, mein riesiger Dank: Sie alle, die Sie sich so unglaublich engagieren für unsere Gesellschaft, den Zusammenhalt, für Vielfalt, Toleranz, Demokratie, Frieden – Sie sind die Stärke unseres Landes. Und Sie sind – wir sind – die Mehrheit.
Ein wichtiger und ein ganz besonderer Teil dieser Erinnerungskultur sind die Stuttgarter Stolpersteine, die als Initiative auch Mitglied und Mit-Initiator des Lern- und Erinnerungsorts „Hotel Silber“ sind. Dank des enormen bürgerschaftlichen Engagements konnten in Stuttgart bis heute rund 1.000 Stolpersteine verlegt werden. Diese 1.000 Stolpersteine sind – Sie alle wissen es – zehn mal zehn Zentimeter groß, aus Beton gegossen und mit einer Messingtafel mit den Namen derer, an die erinnert werden soll, versehen.
Jeder Stein stellt Fragen: Wer waren die Menschen, die erschossen, vergast, vergiftet und auf vielfältige Weise zu Tode gequält wurden? In sorgfältiger Recherche wird diese Frage für jedes Opfer beantwortet, bevor ein Stolperstein verlegt wird.
Als Gunter Demnig, von dem wir gleich eine Videobotschaft hören werden, das Kunstdenkmal Stolpersteine entwickelte, ging es ihm auch um individuelles Gedenken. Die Nationalsozialisten wollten die verfolgten Menschen zu Nummern machen und ihre Identität auslöschen. Mit den Stolpersteinen macht Gunter Demnig diesen Prozess rückgängig und holt ihre Namen wieder in die Straßen und Städte, in denen die Menschen lebten, und vor allem zu uns zurück.
Daher möchte ich an dieser Stelle besonders herzlich begrüßen:
Liebe Familie Link Meher! Sie, Ramona Link Meher sind die Enkelin von Ludwig Loeb und kommen heute mit Ihrer Familie aus den Vereinigten Staaten zur Jubiläumsmatinee und um für Ihren Großvater Ludwig Loeb am Mittwoch (18. Oktober) in der Breitscheidstraße 108 einen Stolperstein zu verlegen. Ihr Großvater, Ludwig Loeb, war als Jude und Sozialdemokrat doppelt verfolgt. Bereits 1933 festgenommen, starb er am 30. Juni 1935 66-jährig an den Folgen der Haft.
Ich begrüße von ganzem Herzen Gadi Miller und seine Familie aus Paris. Sie, Gadi Miller, sind der Urenkel des verfolgten jüdischen Juristen Dr. Hugo Erlanger, der 1941 im Exil in Paris starb und für den am 18. Oktober in der Alexanderstraße 153 ebenfalls ein Stolperstein verlegt wird. Besonders jetzt ist Ihr Hiersein ein so wichtiges Zeichen, und wir senden unsere Gedanken nach Israel an Ora und Noah Miller, die aufgrund des Angriffs der Hamas nicht anreisen konnten.
Die Stolpersteine in Stuttgart erinnern an die Opfer der Shoah und des Nationalsozialismus dieser Stadt, an Jüdinnen und Juden, an Sinti und Roma, an Opfer der Krankenmorde, an politisch Andersdenkende und an Menschen, die Widerstand geleistet haben, an Deserteure, an homosexuelle Männer und lesbische Frauen, an Menschen, die Zwangsarbeit leisten mussten, an Zeugen Jehovas. Die Sichtbarmachung im öffentlichen Raum, das „Stören“ unseres Alltags, die Kontextualisierung, die Kontakte zu den Angehörigen der Opfer und natürlich auch die Arbeit mit Schulklassen sind die große Leistung dieses Projekts. Das gilt es zu erhalten, zu stärken – und zugleich ist es unser Auftrag, jetzt und heute davon ausgehend auch darüber hinaus zu gehen.
Ich bin – ehrlich gesagt – froh, dass die Schulband aus dem Mörike-Gymnasium heute mit auf der Bühne steht, denn bei einem Blick in den Saal wird ja deutlich: Wir müssen eine neue, eine junge Generation im Ehrenamt und hauptamtlich in den Institutionen gewinnen.
In diesen Tagen ist es vielleicht noch mal wichtig daran zu erinnern: Der Nationalsozialismus hat nicht mit monströsen Verbrechen, sondern mit kleinen Verschiebungen angefangen, um ein Bild des Soziologen Harald Welzer zu bemühen. Man kann sich ein Koordinatensystem vorstellen, das von den Nationalsozialisten unmerklich verrückt wurde. Solche Verschiebungen erleben wir gerade – merklich. Diese verstörenden und sehr deutlichen Signale aus der Gesellschaft zeigen uns, dass wir nicht ruhen dürfen. Wir müssen sicherstellen, dass die Erinnerung wach bleibt, die Geschichte nicht umerzählt wird und die jungen Menschen sich nicht abwenden und weghören.
Wir können und dürfen es uns als Gesellschaft nicht leisten, die jüngere Generation an Leugner und Hetzer zu verlieren. Was hilft? Ganz sicher bin ich nicht. Ich würde sagen: Bildung, Bildung, Bildung. Und Probleme in der Gesellschaft ernst nehmen – die Brüche, die wir sehen, ernst nehmen.
Die Stolpersteine und die Namen, die durch diese Steine in dieser Stadt lebendig bleiben, helfen uns heute und hier, diese Aufgabe zu erfüllen. Dies ist der Auftrag der Menschen, für die sie verlegt werden, an uns! Und dieser Auftrag fängt gerade erst an. Ich gratuliere den Stolpersteinen zum 20. Geburtstag. Und ich möchte Ihnen, liebe Brigitte Lösch, und Ihnen, lieber Herr Schmidt, stellvertretend für alle Engagierten und Ehrenamtlichen, die sich mit klarer Haltung gegen das Vergessen stemmen, von Herzen danken.
Und ich bitte Sie alle, meine Damen und Herren, nehmen wir den Auftrag, der damit verbunden ist, an.
Vielen Dank!
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