Beitrag in der Stuttgarter Zeitung vom 24. Feburar 2024
Eine Replik: Nein, die Kultur kreist nicht um sich selbst – sie kreist um die Fragen dieser Zeit, ist wach, offen und in Veränderung
Von Petra Olschowski
Vergangenes Wochenende wurde an dieser Stelle die These formuliert, dass Kulturinstitutionen nicht ernsthaft in die Gesellschaft hineinwirken wollten und daher ihre Subventionierung überprüft werden sollte. In der Kritik steht ein selbstverständlich gewordener „Freibrief“, den die Politik den Einrichtungen ausstelle. Die kritische Frage danach, was die gewachsenen Institutionen der Gesellschaft, die sie finanziert, zurückgeben, werde speziell in „Deutschland sehr ungern gestellt, weil die Nationalsozialisten die Kultur gezielt für ihre ideologischen Zwecke instrumentalisierten“ – es verbiete sich gar, von der Kunst „irgendeine Nützlichkeit zu erwarten“. Den Kulturinstitutionen ihrerseits sei das Publikum egal. Schließlich schreibt die Journalistin: „Letztlich verhindern die Strukturen sogar, dass Kultur hilft, gesellschaftliche Krisen zu lösen.“ Der Politik wiederum fehle der Mut und es mangele an Bereitschaft, um das angebliche System des Elfenbeinturms aufzubrechen.
Eine erstaunliche Sicht auf ein hochdynamisches Feld: die Kunst. Ist es also die Aufgabe der Kultur, „nützlich zu sein“ und gar gesellschaftliche Krisen zu lösen? Haben wir in Deutschland einen Stand der öffentlichen Diskussion erreicht, der die Distanzierung von den Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus anzweifelt und nun fordert, Kunst in den Dienst einer Sache zu stellen? Sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Kultureinrichtungen tatsächlich im 19. Jahrhundert stehen geblieben und kümmern sich nicht um das Publikum? Und wo bleibt eigentlich die Kunst selbst bei all der Polemik? Dies sind nur wenige Fragen, die sich bei der Lektüre stellen.
Daher hier eine Replik aus der Sicht der Politik.
Die Welt ändert sich, Kunst ändert sich, die Kulturinstitutionen und die Art, wie sie arbeiten, ändern sich, das Publikum ändert sich, die Gesellschaft ändert sich, aber die Bilder, die jene hervorrufen, die an alten Klischees festhalten, bleiben die gleichen. Ein Wort steht dafür beispielhaft, mit dem sich spätestens seit den 1960er Jahren niemand aus dem Kunst- und Kulturbereich mehr identifizieren kann, aber das dann doch mit sturer Regelhaftigkeit wiederholt wird. Es heißt: Elfenbeinturm.
Gern wird es benutzt, um eine Diskussion zu befeuern, die ebenfalls regelmäßig vor Haushaltsberatungen in Kommunen und Ländern geführt wird: die Debatte um die Förderung von Kunst und Kultur in Deutschland – die traditionellen Stimmen nennen sie Subvention, die aufgeklärten Investition. Damit verbinden jene, die meinen, die Kulturförderung sei grundsätzlich zu hoch, die Frage, wie sich beziffern und zählen lässt, was die Kunst leistet, um zu berechnen, ob die Mittel tatsächlich sinnvoll ausgegeben werden. Und diese Suche nach belastbaren Zahlen endet dann meist damit, dass man die provokante (!) These aufstellt, weniger sei in jedem Fall mehr, weil sich der Kunstbetrieb allzu sehr in Sicherheit wiege („Freibrief“). Kunst sei aber dann besonders gut, wenn sie darbe. Dazu kommt leider allzu häufig in einem zweiten Schritt, dass zwar anerkannt wird, dass die Freiheit der Kunst ein Grundrecht ist, das aber besser doch begrenzt werden sollte („irgendeine Nützlichkeit“). Denn etwas Messbares sollte sie schon leisten, die Kunst („gesellschaftliche Krisen lösen“).
Dieser Geist findet sich auch in dem Bild, das letzte Woche hier gezeichnet wurde. Und es geht in dieser Reaktion nicht darum, dass es nicht möglich sein soll, ein System wie das der Kulturförderung in Deutschland und die Strukturen des Kunstbetriebs kritisch zu hinterfragen. Das muss man immer wieder, und es wird auch getan. Es geht darum, Klischees zu widersprechen, die mit der tatsächlichen Arbeit der Kultureinrichtungen vor Ort und der Künstlerinnen und Künstler der verschiedensten Sparten – wie auch ihrem Publikum – nichts zu tun haben. Und es geht vor allem darum, die Freiheit der Kunst zu verteidigen.
Zunächst ein paar Fakten, die das System der Kulturförderung in Deutschland beschreiben. Diese folgt dem Prinzip der Subsidiarität. Das heißt: in erster Linie verantwortlich sind die Kommunen. Es folgen für übergreifende Aufgaben die Länder. Der Bund setzt Akzente von nationaler Bedeutung. Für die Länderhaushalte heißt das konkret: weniger als ein Prozent der Haushaltsmittel wird für Kultur ausgegeben. Das ist nicht viel. Aber aufgrund der dezentralen Ausrichtung hat Deutschland trotzdem ein breites und vielfältiges Kultursystem mit vielen kleinen und großen Zentren mit unterschiedlicher Ausprägung, um das uns Kunstinteressierte aus aller Welt beneiden.
Das gilt für alle Sparten, ob Theater, Literaturhäuser und Museen, ob Soziokulturelle Zentren, Konzerthäuser, Musikvereine, Kunstakademien, Clubs oder Kommunale Kinos. Es gibt in der Regel verlässliche institutionelle Förderungen für Einrichtungen mit festem Mitarbeiterstab und größeren Ensembles oder öffentlichen Sammlungen. Darüber hinaus bieten vor allem die Kommunen viele Programm- und Projektförderungen für eine sich dauernd wandelnde freie Szene, die aufgrund ihrer Dynamik immer wieder neue Fördermodelle braucht.
Grundlage für die Förderung ist Artikel 5, Absatz 3 Grundgesetz. Hier ist festgehalten, dass die Kunst, ebenso wie Wissenschaft und Forschung, frei ist. Die freie künstlerische Betätigung und die Präsentation der künstlerischen Arbeiten in der Öffentlichkeit im Grundgesetz „vorbehaltlos zu verbürgen“, war und ist mehr als ein symbolischer Akt. Dieses Recht ist eine wesentliche Grundlage für unsere Demokratie. Und ja: dies kommt aus den Erfahrungen der Vergangenheit, und es wird bestätigt durch das Erleben der Gegenwart, wenn man in Länder wie Russland oder die Türkei blickt.
Was also kann eine Aufgabe der Kulturpolitik an diesem Punkt in der Debatte sein? Zum Beispiel: die Verantwortung anzunehmen, durch staatliche Förderung die Freiheit zu garantieren; das fragile System der Kunst in seiner ganzen Vielfalt gegen eine national verordnete Leitkultur oder Nützlichkeitsdebatte zu schützen; Qualität und Innovation in der künstlerischen Arbeit im Blick zu haben; aber - ja - natürlich auch die Institutionen und Initiativen darin zu stärken, die Begegnung der Gesellschaft mit Kunst zu ermöglichen.
Denn natürlich ist Kunst Teil der Gesellschaft, oftmals auch Spiegel von gesellschaftlichen Prozessen. Und sie lebt davon gesehen, gehört, gelesen, ertastet, gefühlt, erkannt, gedacht, genossen zu werden. Die Initiative Kulturelle Integration des Deutschen Kulturrats schreibt: „In der Fähigkeit, Kunst zu schaffen und zu interpretieren, überschreitet der Mensch, wie die UNESCO formuliert, seine eigene Begrenztheit.“ Und damit liegen Begegnung und Austausch im Wesen der Kunst.
In der Geschichte gab es unterschiedliche Phasen: Es gab jene Strömungen, deren Ziel es war, vor allem Gleichgesinnte mit einer bestimmten Art von Kunst zu erreichen und sich von anderen gesellschaftlichen Gruppen abzugrenzen. Und jene, die versuchten, ein möglichst breites Publikum anzusprechen. „Kunst für alle“ stand schon 1885 über einer Zeitschrift, die in München erschien. Ende der 1970er Jahre wurde es zum Slogan für eine ganze Generation von Kulturvermittlerinnen und -vermittlern. Das gilt bis heute. Allerdings würde man angesichts einer immer vielfältiger werdenden, individualisierten Gesellschaft eher von einer Kulturarbeit für viele sprechen, die von vielen auf ganz unterschiedliche Art betrieben wird.
Das heißt für die Kulturförderung in Baden-Württemberg: Es kann nicht darum gehen, dass jede Einrichtung alle Menschen anspricht. Aber es ist unser Ziel, dass durch die Unterschiedlichkeit der Kulturangebote, die Vielfalt der Einrichtungen und die eigens entwickelten Beteiligungsformate ein möglichst breites Publikum im Ganzen erreicht wird. In diesem Sinn haben viele Institutionen ihr Personaltableau umgestellt: Es gibt weniger spezialisierte Kuratorinnen und Kuratoren, aber immer mehr Vermittlerinnen und Vermittler mit unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen und Perspektiven. Um diesen Prozess zu unterstützen, haben wir in Baden-Württemberg ein Weiterbildungsprogramm auf den Weg gebracht, das Kunst- und Kultureinrichtungen als lernende Organisationen begreift und Einzelpersonen und Teams dabei unterstützt, sich auf gesellschaftliche Herausforderungen einzustellen und neue Zielgruppen anzusprechen. Zudem haben wir das Zentrum für Kulturelle Teilhabe geschaffen, das berät, fördert, neue Wege erprobt. Selbst die vielfach kritisierten Intendantenmodelle der großen Theater sind im Wandel. Auch hier gilt: Es hilft nichts, althergebrachte Reflexe immer wieder aufs Neue zu zitieren. Die Kultur ist längst weiter.
Veränderungsbereitschaft, Transformation und Öffnung sind Realität in den allermeisten öffentlich geförderten Einrichtungen. Damit schaffen sie auch Raum für Dialog, Teilhabe und eine Debattenkultur, die unsere Demokratie stärkt. Kinder- und Jugendbeiräte beraten Theater (z.B. im JES Stuttgart, im Badischen Staatstheater Karlsruhe, in den Theatern Konstanz und Ulm); Gruppen der Stadtgesellschaft entwickeln Ausstellungen (z.B. im Haus der Geschichte, im Linden-Museum, im Badischen Landesmuseum Karlsruhe); Freundeskreise mischen sich ein (z.B. Württembergische Staatstheater Stuttgart, Literaturhaus Stuttgart). Digitalisierte Angebote begleiten die Programme; das Zentrum für Kulturelle Teilhabe fördert erfolgreich Inklusionsangebote; der freie Eintritt für Kinder und Jugendliche in die Landessammlungen sorgt dafür, dass die Räume offen zugänglich sind; Sparten durchmischen sich fast überall.
Und diese Initiativen scheinen erfolgreich zu sein. Jedenfalls steigen die Publikumszahlen seit der Pandemie stetig und haben vielfach einen neuen Höchststand erreicht, der über den Zahlen von 2019 liegt. Das allein ist kein Beweis dafür, dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Aber es ist ein Hinweis, dass die Einrichtungen ihr Publikum sehr wohl im Blick haben und neue Gruppen hinzugewinnen. Selbst eher traditionelle Formate sprechen dafür: Ob die „Kleine Hexe“ im Landesmuseum Württemberg, die Ausstellung „Sieh dir die Menschen an!“ im Kunstmuseum, „Ein Käfig voller Narren“ im Theater der Altstadt, die Nachtschwärmerkonzerte von den Stuttgarter Philharmonikern und dem Bix oder die ausverkaufte Neuinszenierung der „Zauberflöte“ in der Oper – und das sind nur wenige Beispiele aus Stuttgart: Mit einer Elfenbeinturm-Mentalität wären diese Erfolge nicht zu schaffen.
Und dann, ja, dann ist da noch die Kunst selbst. Denn am Ende sind es ihr Zauber, ihr Reichtum, ihr Rätsel, ihre Verführung, ihre Provokation, ihre Streitfälle, die für die Kultur einer Gesellschaft und ihrer Zeit stehen. An wem ist es, diese Kraft und Stärke einzuschränken, zu limitieren, zu regeln? Ihr Nützlichkeit zu verschreiben, wo sie doch in der ihr eigenen Art unmittelbar wirkt?
Ihr den Raum zu geben, Qualitäten weiter zu entwickeln, neue Sprachen zu finden, andere Formate zu erobern, ist der eigentliche Auftrag an die Kulturpolitik.