Der russisch-schweizerische Schriftsteller Michail Schischkin hat am 10. November 2024 die Marbacher Schillerrede gehalten. Zu diesem Anlass begrüßten Petra Olschowski, Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und Sandra Richter, Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach.
Grußwort von Petra Olschowski
Sehr geehrte, liebe Frau Professorin Richter,
sehr geehrter Kai Uwe Peter,
sehr geehrter Herr Abgeordneter, lieber Tayfun Tok,
sehr geehrter Herr Bürgermeister, lieber Herr Trost!
Liebe Gäste, liebe Anwesende - und ganz besonders:
Sehr verehrter Herr Schischkin!
Es ist mir eine Ehre anlässlich der Schillerrede durch Sie, verehrter Herr Schischkin, und am 265. Geburtstag Friedrich Schillers, hier in Marbach, in unserem wunderbaren Literaturarchiv, ein Grußwort sprechen zu dürfen.
In diesen Zeiten, meine Damen und Herren, sind Räume wie dieser, in denen wir gemeinsam nachdenken, sprechen, zuhören, zweifeln, Fragen stellen, nach Antworten suchen, uns einig sind, uns nicht einig sind, von unschätzbarem Wert.
Seit 1999 ist die jährliche Schillerrede ein wichtiger Anlass in Baden-Württemberg um genau das zu tun. Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur, Gesellschaft und Politik wie Orhan Pamuk, Anne Weber, Daniel Kehlmann, Jan Philipp Reemtsma, Norbert Lammert, Christian Drosten, Cem Özdemir - um nur einige wenige zu nennen - befragen Schiller, sein Werk und seine Ideen, neu, mit dem Blick unserer Zeit. Und wenn ich mich an die letzten Jahre hier zurückerinnere, dann war jeder dieser Sonntage nicht nur von einer gänzlich anderen Annäherung an Schiller durch den jeweiligen Redner oder die Rednerin geprägt, sondern auch von außerordentlichen Zeitereignissen. Meist großen Erschütterungen, die weder Kunst, noch Gesellschaft, noch Politik unberührt gelassen haben. Auch dieses Jahr ist das wieder der Fall.
Meine Damen und Herren – Friedrich Schiller – und das trifft ebenso auf den heutigen Schillerredner zu, auf Sie, verehrter Herr Schischkin - war Schriftsteller. Aber er war zudem – und auch das trifft in besonderem Maße auf Sie zu - ein politischer Schriftsteller, auch wenn man das in Schillers Zeit noch nicht so genannt hätte. Schiller war als Autor Zeuge seiner Zeit, einer wechselvollen Zeit in Europa. Er hat selbst erlebt und erlitten, wie sich Macht und Politik auf das Leben jedes Einzelnen auswirkt. Und dieses Erleben hat Einfluss auf sein Schreiben genommen. Dazu gehört, ganz existenziell, die Erfahrung der Flucht als einzige Möglichkeit, um als Künstler frei arbeiten zu können. Zeiten ändern sich. Nicht unbedingt die Verhältnisse.
Sehr verehrter Herr Schischkin, Sie sind 1995 aus Russland weggegangen – damals, wie Sie selbst sagen, ohne äußeren politischen Druck. In einem Interview (im August diesen Jahres mit der Neuen Zürcher Zeitung) haben Sie es kürzlich so formuliert: „Wäre ich damals nicht gegangen, hätte ich es später gemacht. Man kann in Russland nicht bleiben, wenn man schöpferisch ist. Man hat als Russe drei Möglichkeiten: Man kann patriotische Lieder singen, man kann schweigen oder emigrieren. (…) Ich verließ Russland freiwillig, das war 1995 kein Exil. Aber heute bin ich ein russischer Emigrant. Denn nachdem ich weggegangen war, wanderte Russland zurück ins Mittelalter.“
Es ist diese Zeitgenossenschaft, die mich heute hier besonders interessiert. Die Frage, wie Literatur und die Kunst im Allgemeinen in die Zeit, in der sie entsteht, hineinwirkt. Wie sie diese besondere Kraft entwickelt, von den Menschen, die gleichzeitig wie der oder die Schriftsteller die Welt erleben, wahrgenommen zu werden in ihren Möglichkeiten. Schiller schreibt dazu im zweiten Brief aus „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“: „Ich möchte nicht gern in einem anderen Jahrhundert leben und für ein andres gearbeitet haben. Man ist eben so gut Zeitbürger, als man Staatsbürger ist; und wenn es unschicklich, ja unerlaubt gefunden wird, sich von den Sitten und Gewohnheiten des Zirkels, in dem man lebt, auszuschließen, warum sollte es weniger Pflicht sein, in der Wahl seines Wirkens dem Bedürfnis und dem Geschmack des Jahrhunderts eine Stimme einzuräumen?“
Ihre „Wahl des Wirkens als Zeitbürger“ im Sinne Schillers, lieber Herr Schischkin, heißt, dass die Sprache Ihr „Kampffeld“ ist, wie Sie es selbst bezeichnen - ich zitiere (Interview vom August 2024 auf Deutschland.de): „Russisch und die russische Kultur gehört nicht Putin und seinen Henkershelfern. Die Kultur ist die Existenzform der menschlichen Würde. Thomas Mann hat die Würde der deutschen Sprache und der deutschen Kultur gegen die Nazis im Exil verteidigt. Nun müssen wir, russische Kulturschaffende, die Würde unserer Sprache und unserer Kultur verteidigen.“ Dieser tiefen Überzeugung verpflichtet, schreiben Sie nicht nur, Sie haben zudem mit Mitstreiterinnen und Mitstreitern, Kolleginnen und Kollegen ganz aktuell einen neuen Literaturpreis für die vom politischen Regime unabhängige russischsprachige Literatur ins Leben gerufen.
Ich möchte nochmal deutlich machen, was das einschließt: In russischer Sprache schreibt nämlich auch Swetlana Alexijewitsch aus Weißrussland oder Andrei Kurkow aus der Ukraine. Es gibt russischsprachige Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Litauen, Kasachstan, Georgien oder Deutschland. Ganz herzlichen Dank für dieses Engagement, mit dem sie ein weithin sichtbares Zeichen setzen. Auch das meint: Wirken in die Zeit hinein. Wir alle, meine Damen und Herren, wissen: Nicht erst seit Beginn des Ukraine-Kriegs geht die russische Regierung verschärft gegen Journalistinnen und Journalisten, Künstlerinnen und Künstler, Autorinnen und Autoren vor, die sich kritisch zu Putins Regime äußern. Sie alle verschwinden systematisch aus russischen Buchhandlungen und Bibliotheken, Theatern und Konzerthallen, aus den Medien, dem öffentlichen Leben. Das ist nicht nur in Russland der Fall. Wir kennen es von fast allen autokratischen Systemen der Welt, dass die Kunst, der Journalismus, die frei geäußerte Meinung geopfert wird auf dem Altar des Gehorsams, der Gleichförmigkeit, der Unfreiheit. Gleichzeitig aber kann man sich fragen – und man tut es in diesen Tagen, Wochen, Monaten immer wieder –, welche Rolle Kultur und Medien auf dem Weg hin zu antidemokratischen Regimen spielen, denn all diese Einschränkungen, die sie selbst am Ende treffen, kommen ja nicht von selbst oder über Nacht; sie werden über eine lange Zeit aufgebaut. Oft nicht mal im Geheimen, sondern sichtbar und öffentlich. Und nicht nur in Russland, auch in den USA oder in Teilen Deutschlands können wir diese Entwicklungen beobachten. Ganz offenbar kann weder Aufklärung noch Bildung, können die vielen Artikel und Bücher, Performances und Popsongs, die Kriege und Diktaturen dieser Welt nicht verhindern.
Ist das so?
Sehr verehrter Herr Schischkin, Sie haben eindrucksvoll und sehr schmerzhaft formuliert: „Wenn der Krieg beginnt, erleidet die Literatur immer eine Niederlage (…) Alle meine Bücher oder die Bücher, die meine Kollegen und Kolleginnen in den letzten 20 Jahren geschrieben haben, haben diese Tragödie, in der wir uns jetzt befinden, nicht verhindern können. Aber jeder Krieg geht früher oder später zu Ende. Und dann brauchen wir Kultur, Literatur. Zwischen der Ukraine und Russland entstand ein großer Graben, gefüllt mit Tod, Schmerz und Hass. Nach dem Krieg wird es notwendig sein, Brücken über diesen Abgrund zu bauen. Ich bin sicher, dass Schriftsteller, Künstler, Musiker die ersten sein werden, die diese Brücke bauen.“
Meine Damen und Herren! Vielleicht ist es also doch so: Um solche Brücken - ob hierzulande oder überall auf der Welt - zu bauen, brauchen wir die Kunst. Dafür spricht viel. Aber das wird nicht reichen. Wir können ihr das Feld nicht allein überlassen und uns derweil an ihr erfreuen. Wir müssen alle weiter eintreten für eine freie demokratische Gesellschaft und das verbindende Gespräch, das gemeinsame Handeln über gesellschaftliche Gruppen und über Landesgrenzen hinweg, für den Dialog zwischen Kunst, Gesellschaft und – ja auch – Politik.
Die heutige Schillerrede ist ein Signal dafür, dass der Dialog zwischen den Kulturen und Sprachen ungeachtet von Kriegen und Zerwürfnissen unbedingt fortgesetzt werden muss - auch und gerade in so dramatischen und teilweise entsetzlichen Zeiten wie wir sie aktuell erleben. Mir ist das eindrückliche – und hoffnungsvolle - Bild, das Sie, Herr Schischkin, in einem ihrer ersten Werke gezeichnet haben in Erinnerung geblieben: der Kalligraf, der mit seinen Buchstaben, seinen Zeichen ein Instrument an die Hand bekommt, um die Welt zu korrigieren, das Chaos zu ordnen und das Schreckliche in etwas Schönes zu verwandeln. Das ist eine wunderbare Vision: Der Schriftsteller, der Künstler, der die Welt wieder in Ordnung bringt, sie zu etwas Schönerem, Besseren macht. Auch wenn die Kunst in diesem Sinne nichts „muss“ (und das ist mir schon wichtig): sie kann eine wichtige Kraft im Ringen um Verständnis, Empathie, Freiheit, Offenheit, Gemeinschaft, Humanität und Schönheit sein. In diesem Sinne möchte ich Ihnen ausdrücklich danken für Ihr Zeitbürger-Sein und für Ihren Glauben an die verbindende, freiheitliche Kraft der Kunst, lieber Herr Schischkin.
Ich möchte mit einem Wort aus den Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen" von Friedrich Schiller enden, aus dem 11. Brief: „Nicht, weil wir denken, wollen, empfinden, sind wir; nicht, weil wir sind, denken, wollen, empfinden wir. Wir sind, weil wir sind; wir empfinden, denken und wollen, weil ausser uns noch etwas Anderes ist.“