Bundesweit einmaliges Netzwerk
In der baden-württembergischen Forschungslandschaft ist das 3R-Prinzip inzwischen fest verankert. Die Abkürzung 3R steht für Replace, Reduce, Refine – Tierversuche zu reduzieren, zu ersetzen und die Bedingungen unvermeidbarer Experimente zu verbessern.
Das 3R-Netzwerk Baden-Württemberg nimmt bundesweit eine Vorreiterrolle ein. Für den Auf- und Ausbau des Netzwerks stellen das Wissenschaftsministerium und beteiligte Hochschulen bis 2025 rund 6,8 Millionen Euro zur Verfügung.
An Hochschulen und Forschungseinrichtungen im Land bündeln interdisziplinäre Forschungsgruppen ihre Kompetenzen – für das Tierwohl und den Fortschritt in der Biomedizin. Das Netzwerk besteht aus 3R-Zentren sowie Forschungs- und Lehrprojekten, die sich auf hohem Niveau thematisch ergänzen. Ersatz- und Ergänzungsmethoden wie Computersimulationen, Organ-on-Chip-Modelle oder Pflanzen als „grüne Gefäße“ bringen die biomedizinische Forschung allgemein voran. Von der Übertragung qualitativ hochwertiger Forschungsergebnisse in die klinische Anwendung profitieren letztlich Patientinnen und Patienten.
Weiterbildung und Nachwuchsförderung
Auch Nachwuchsförderung und Weiterbildung gehören zum Auftrag des 3R-Netzwerks: Mit zielgerichteten Aus- und Fortbildungsmaßnahmen werden junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf die innovative biomedizinische Forschung von morgen vorbereitet. Dabei wird aus dem 3R- zunehmend ein 6R-Prinzip. Die Erweiterung bezieht sich auf eine statistisch robuste Versuchsplanung, die Registrierung aller Tierversuche und Alternativen sowie die Publikation von Negativergebnissen (Robustness, Registration, Reporting). Obwohl Ersatzmethoden bereits vielfach eingesetzt werden, kann die Forschung in absehbarer Zeit nicht vollkommen ohne Tierversuche auskommen. Ersatzmethoden bilden nämlich oft nur Teilaspekte komplexer Vorgänge im Körper ab.
Entwicklung des 3R-Netzwerks
Als erstes Bundesland hat Baden-Württemberg eine nachhaltige Strategie erarbeitet, um den Tierschutz und die biomedizinische Forschung durch Ergänzungs- und Ersatzmethoden zu stärken.
Der Startschuss für das 3R-Netzwerk fiel 2020 mit der Förderung einer Brückenprofessur „Organ-on-a-chip“ an der Universität Tübingen/am NMI Reutlingen sowie der Eröffnung des „3R-Centers für In-vitro-Modelle und Tierversuchsalternativen“ in Tübingen. Im Jahr 2021 sind nach einem wettbewerblichen Verfahren vier weitere 3R-Zentren eingerichtet worden:
- 3R-Zentrum am „Interdisziplinären Zentrum für Darmgesundheit“ (IZDG) der Universität Heidelberg
- 3R-Zentrum am „Center for Alternatives to Animal Testing in Europe“ (CAAT-Europe) der Universität Konstanz mit der Johns Hopkins University
- Das „3R-Zentrum Rhein-Neckar“ der Universität Heidelberg mit dem Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim
- Das Zentrum „3R-BioMedicUS“ der Universität Stuttgart und des Robert-Bosch-Krankenhauses
Außerdem werden von 2021 bis 2024 drei Forschungs- und zwei Lehrprojekte an den Universitäten in Freiburg, Heidelberg, Reutlingen und Ulm gefördert. Im Jahr 2024 ist darüber hinaus eine Geschäftsstelle am Standort Tübingen eingerichtet worden, welche die Vernetzung, Weiterentwicklung und Sichtbarkeit des 3R-Netzwerks Baden-Württemberg weiter voranbringen soll.
Ausgezeichnete 3R-Forschung
3R-Forschende aus Baden-Württemberg sind bereits vielfach für ihre wissenschaftliche Arbeit ausgezeichnet worden. Zuletzt haben Professor Dr. Peter Loskill und Dr. Silke Riegger vom 3R-Center Tübingen den Ursula M. Händel-Tierschutzpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) erhalten. Der mit 80.000 Euro dotierte Preis wurde ihnen in 2024 ungeteilt für die Entwicklung von Organ-on-Chip-Systemen als Alternative zu Tierversuchen verliehen.
Drei neue 3R-Zentren ab 2025
Im Januar 2025 starten drei neue 3R-Zentren an baden-württembergischen Hochschulen. Das Wissenschaftsministerium fördert diese Zentren für zunächst drei Jahre.
- Das neue 3R-Zentrum ROCKIT am Karlsruher Institut für Technologie bringt vor allem Expertise in den Bereichen Künstliche Intelligenz und Digitalisierung in das 3R-Netzwerk ein.
- An der Hochschule Furtwangen startet das „3R Entwicklungs- und Transfer-Zentrum für 3D Gewebemodelle in vitro und in silico“.
- Das iR Centre an der Universität Ulm widmet sich künftig dem Refinement-Gedanken. Ein Schwerpunkt liegt auf der Trauma- und Tumorforschung.
3R-Zentren im Überblick
Im Fokus des 3R-Centers Tübingen stehen Organ-on-Chip-Systeme als humane Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu Tierversuchen. Diese mikrofluidischen Plattformen enthalten lebende Gewebestrukturen in einer kontrollierten Mikroumgebung und simulieren komplexe humanbiologische Prozesse außerhalb des Körpers – zum Beispiel für die Medikamententestung. Das 3R-Center engagiert sich in den Bereichen Wissenschaftskommunikation und Öffentlichkeitsarbeit, Training, Aus- und Weiterbildung sowie als Core Facility. Dabei liegt der Fokus auf dem Wissenstransfer; die Akzeptanz von 3R-Modellen wird gefördert, um ihre Anwendung voranzutreiben. Die Core Facility bietet einen direkten Zugang zur notwendigen Infrastruktur und Expertise. Forschende erhalten professionelle Unterstützung durch geschultes Personal, das sie von der Planung bis zur Auswertung ihrer Studie begleitet. Das 3R-Center wird gemeinsam von der Universität Tübingen und dem NMI Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut getragen.
Das 3R-Zentrum Rhein-Neckar hat das Ziel, tierexperimentelle Methoden zu verbessern, um den medizinischen Fortschritt voranzutreiben. Die gebündelten Kompetenzen (Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Universitätsmedizin Mannheim und Universität Heidelberg) befördern die Schwerpunkte des Zentrums: Reduce und Refine. Eine bedeutende Aufgabe des Zentrums ist es, notwendige Tierversuche künftig noch besser zu koordinieren und den Austausch von Know-how sowie gegenseitige Hilfestellung zu ermöglichen, so dass neueste wissenschaftlichen Erkenntnisse im 3R-Bereich umgesetzt werden. Das Zentrum hat sich zudem zu einer festen Anlaufstelle für eine robuste und reproduzierbare Versuchsplanung in der biomedizinischen Forschung (6R-Prinzip) etabliert. Durch gezielte Refinement-Ansätze der Partner wurden und werden Maßnahmen zur Verbesserung des Wohlergehens von Versuchstieren entwickelt.
Das Zentrum 3R-BioMedicUS bündelt die biomedizinische Forschung und Lehre der Universität Stuttgart zur Entwicklung innovativer, prädiktiver Patientenmodelle als Alternativen zu Tierversuchen. Dabei werden moderne 3R-Techniken eingesetzt, um Tierversuche zunehmend zu ersetzen. Wie können beispielsweise Pflanzenstängel zur Validierung neuer Herzstents beitragen? Oder wie helfen virtuelle Modelle des menschlichen Körpers auf Hochleistungsrechnern dabei, Erkenntnisse zu gewinnen, die Tierversuche übertreffen? Auch 3D-gedruckte Gewebemodelle oder kleinste Tumorstückchen in Petrischalen spielen eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung neuer Krebsmedikamente. Studierende und Forschende werden darin ausgebildet, das Potenzial dieser modernen Technologien zu erkennen und ethisch einzuordnen. Ziel ist es, aussagekräftige Patientenmodelle und neuartige therapeutische Ansätze zu entwickeln, die die biomedizinische Forschung der Zukunft prägen werden.
Das CAAT-Europe (Center for Alternatives to Animal Testing in Europe) ist ein transatlantisches Bündnis zwischen der Universität Konstanz und der Johns Hopkins University. Mit dem Vorhaben „Forschungs- und Harmonisierungsmaßnahmen zur Förderung der Akzeptanz tierfreier neuer Ansatzmethoden in verschiedenen Interessengruppen“ (NAM-ACCEPT) bringt sich der Verbund in das baden-württembergische 3R-Netzwerk ein. Der Fokus liegt hier auf einer besseren In-vitro zu In-vivo-Übertragbarkeit, was besonders beim Transport von Wirkstoffen (Biokinetik) sowie daraus folgenden gewollten und ungewollten Effekten eine hohe Relevanz für die Therapie hat. Zudem werden eine weitere internationale Standardisierung sowie Harmonisierung neuerer Methoden und der Datenverarbeitung angestrebt.
Das Interdisziplinäre Zentrum für Darmgesundheit (IZDG) setzt sich aus Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Medizin und Bioinformatik sowie weiterer Fachrichtungen zusammen. Das Team hat sich auf die Erforschung molekularer Ursachen von Darmerkrankungen wie Morbus Hirschsprung, chronisch entzündlicher Darmerkrankungen und des Reizdarmsyndroms spezialisiert. Dabei folgt das IZDG dem „Replace“-Prinzip und nutzt für experimentelle Fragestellungen ausschließlich humane Zell- und Organkulturmodelle aus patienteneigenem Gewebe. Darüber hinaus werden unter anderem klinische, phänotypische, epigenetische und genetische Daten erhoben und in komplexen integrativen Datenanalysen zusammengeführt. Ziel ist es, zugrundeliegende Pathomechanismen im patientenspezifischen Kontext ganzheitlich zu verstehen, um die Entwicklung alternativer, individueller Therapieoptionen voranzutreiben. Zudem engagiert sich das IZDG in der Lehre, um für das 3R-Prinzip zu sensibilisieren.
Am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) wird durch 3ROCKIT ein neues 3R/6R-Zentrum zur Reduktion und zum Ersatz von Tierversuchen eröffnet. Als Teil des 3R-Netzwerks Baden-Württemberg setzt 3ROCKIT langfristig auf die Entwicklung von digitalen Methoden zur Umsetzung des 6R-Prinzips bis hin zum digitalen Zwilling als Alternative zu In-vivo-Modellen. Hierbei sind insbesondere Methoden der Künstlichen Intelligenz zur Validierung von Alternativmethoden und eine autonome, beschleunigte biomedizinische Forschung in Self-Driving Labs bedeutend.
Um die notwendige IT-Infrastruktur anzubieten, entwickelt 3ROCKIT digitale Erfassungs- und Reportingsysteme, die eine präzise und transparente Dokumentation von Tierversuchen sicherstellen. Durch eine digitale Lernplattform innerhalb eines Cloud-Labs stärkt das neue 3R-Zentrum das Bewusstsein für Alternativen zum Tierversuch. Der schnelle Transfer neuer Alternativmethoden in die Praxis wird durch eine enge Zusammenarbeit mit Industriepartnern und regulatorischen Behörden möglich.
Tierversuche sind in der biomedizinischen Forschung weiterhin unerlässlich, können aber durch moderne Methoden verfeinert, reduziert und teilweise ersetzt werden. Die Herausforderung besteht im komplementären Einsatz von integrativen und innovativen Ersatzmethoden (iR) wie Computermodellierungen und tierfreundlichen Verfahren für die komplexe Erforschung der Grundlagen des Traumas, der Alterung sowie von Stoffwechsel- und Krebserkrankungen. Oft sind Forschende auf nur eine Versuchstierart oder ein Modell spezialisiert. Das iR Centre an der Universität Ulm bündelt Expertisen, um hochwertige Forschungsergebnisse unter Berücksichtigung des Tierwohls zu erzielen. Mit Beratung, Refinement Labs, Gewebebanken, Weiterbildung und der Vergabe eines Vernetzungspreises für die innovativsten 6R-Projekte trägt das iR Centre zur erfolgreichen Zukunft der Grundlagen- und translationalen Forschung bei.
Das neue „3R Entwicklungs- und Transferzentrum für 3D-Gewebemodelle In vitro und In silico“ an der Hochschule Furtwangen kombiniert bestehende Forschungskompetenz zu 3D-Gewebemodellen In vitro mit der Modellierung von Geweben In silico (reduce, replace) und statistisch unterstützter optimierter Versuchsplanung (refine). Um das Bewusstsein für die 3R-Prinzipien zu schärfen, wird der 3R-Wissenstransfer für Nachwuchsforschende in zahlreichen Lehrformaten in Bachelor- und Masterstudiengängen sowie in Seminaren für Promovierende des Promotionsverbandes Baden-Württemberg vorangetrieben. Dazu kommen Weiterbildungsmodule für Interessierte aus Forschung und Industrie sowie die Etablierung von Beratungs- und Serviceangeboten.
- Überwindung translationaler Hürden – Verbesserung der Evidenz und des prädiktiven Wertes bei experimenteller Forschung, Universität Freiburg:
In diesem Vorhaben wird ein systematischer, meta-analytischer Ansatz zur Detektion und zur Korrektur des momentan vorherrschenden „Publikationsbias“ entwickelt – mit dem Ziel, die Übertragung von präklinischen Studien zu Rückenmarksverletzungen in die Anwendung ohne zusätzliche Tierversuche zu verbessern.
- Refinement in komplexen belastenden Versuchen an Mäusen,
Universität Ulm:
Dieses Vorhaben begleitet Versuche aus der Traumaforschung in Ulm und etabliert Refinement-Maßnahmen für Tiere, die durch Experimente oder die Zucht besonders belastet sind.
- Charakterisierung und Weiterentwicklung heterotypischer 3D-Sphäroide aus Kopf-Hals-Plattenepithelkarzinomen, Universität Heidelberg:
Für die Etablierung individualisierter Therapien für Plattenepithelkarzinome werden 3D-Sphäroide, die die Tumorarchitektur widerspiegeln, optimiert und weiterentwickelt. Humanisierte Kulturbedingungen ersetzen fetales Kälberserum.
- 3R-BioMED-Lab, Hochschule Reutlingen:
Das Projektlernlabor BioMED für Studierende im Bachelorstudiengang Biomedizinische Wissenschaften wird um 3D-Bioprinting Methoden und ein Videorepositorium erweitert (Erstellung von YouTube Videos von und für Studierende). Dabei geht es um die praxisbezogene Wissensvermittlung sowie um die Reflexionsfähigkeit ethischer und rechtlicher Aspekte von Tierversuchen. Dies führt zu einer vertieften Ausbildung im 3R-Bereich für angehende Absolventinnen und Absolventen.
- „5R-Kurse (Reduction, Refinement, Replacement, Rigour and Reproducibility)“ zur Verbesserung der Qualität von tierexperimentellen Studien in der biomedizinischen Forschung, Universität Ulm:
Ziel ist die Etablierung und Durchführung anerkannter, zertifizierter „5R-Kurse“ zur Qualitätsverbesserung von tierexperimentellen Studien in der biomedizinischen Forschung. Die Kurse werden den gesamten Animal Welfare-Bereich im Tierversuch abdecken. Schwerpunkte sind dabei: Belastungen im Tierversuch zu erkennen und zu reduzieren sowie ein zeitgemäßes Qualitätsmanagement im Tierversuch zur Steigerung der Reproduzierbarkeit von Tierversuchen und der Translationsquote. Die Kurse wenden sich an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Tierschutzbeauftragte, Tierhausleiterinnen und -leiter sowie an Behördenvertreterinnen und
-vertreter.