1. KulTourTalk im Netz
GesprächspartnerInnen:
- Anja Casser, Direktorin Badischer Kunstverein
- Dr. Nicole Fritz, Direktorin und Vorsitzende des Vorstands der Stiftung Kunsthalle Tübingen
- Prof. Dr. Eckart Köhne, Direktor Badisches Landesmuseum und Präsident des Deutschen Museumsbundes
- Prof. Dr. Christiane Lange, Direktorin Staatsgalerie Stuttgart
- Prof. Dr. Norbert Lenz, Direktor Naturkundemuseum Karlsruhe
- Jan Merk, Präsident Museumsverband Baden-Württemberg e. V.
- Prof. Dr. Hajo Grundmann, Leiter des Instituts für Infektionsprävention und Krankenhaushygiene am Uniklinikum Freiburg
Hier finden Sie die Aufzeichnung des Talks:
1. KulTourTalk - Öffnung der Museen
Hier stellen wir die Bereiche Museen und Ausstellungen in den Fokus. Kunststaatssekretärin Olschowski und die Direktorin des Landesmuseums Württemberg, Dr. Astrid Pellengahr, sprechen über die Bedingungen und Herausforderungen für eine Öffnung der Museen und die Chancen des Digitalen.
Die Kultur fehlt uns, weil es in der Kultur immer um das Fehlende geht. Der Inhalt der Kultur ist das Fehlende. Wir schaffen Musik, weil sie nicht da ist. Ein Roman berichtet über Ereignisse und Personen, die nicht anwesend, sondern vergangen sind und an einem anderen Ort stattfanden bzw. lebten. Die Schrift ermöglicht uns Menschen zu kommunizieren, auch wenn wir durch Kontinente und Jahrhunderte getrennt sind. Schrift ist das erste Medium der Absenz, das vergegenwärtigt, was abwesend ist, was fehlt.
Die Technik setzt diese Arbeit der Schrift fort. Wenn wir heute von ›Social Distancing‹ sprechen, dann sollten wir wissen, dass die Überwindung räumlicher und zeitlicher Distanz immer schon der Motor der Kultur war, z.B. die Antike betrachten wir aus der Ferne mittels Schrift und Bilder. Das griechische Wort für Ferne heißt tele-. Wir haben in den letzten Jahrhunderten, von Telefax über Telefon bis Television, eine gigantische Industrie der Ferntechnologie entwickelt, in der Botschaften getrennt vom Boten, genauer: vom Körper des Boten, übertragen werden.
Das Wesen der Kultur war immer schon die Trennung von Bote und Botschaft. Wir hören die Musik von KomponistInnen aus früheren Jahrhunderten, wir lesen die Texte von PhilosophInnen, wir sehen uns die Bilder von MalerInnen und die Filme von RegisseurInnen an, wir lesen die Roman von AutorInnen, die alle verstorben sind – wir setzen uns mit Werken von Menschen auseinander, obwohl diese nicht mehr unter uns weilen, weil ihre Botschaften, d.h. ihre Werke, wichtig für uns bleiben, obwohl die Boten, die Individuen, nicht mehr existieren. Die Kunstwerke werden von Individuen geschaffen und sind für Individuen bestimmt. Kunstwerke haben den Sinn, in den Individuen neue Erlebnisse und Erkenntnisse hervorzurufen. Das Leben der Menschen ist nur ein winziger Time-slot, Zeitspalt, in der Geschichte. Die Menschen leben im Gefängnis von Raum und Zeit. Aber die Kultur erweitert die Gitterstäbe, indem sie uns Zugang zu anderen Zeiten und Räumen gewährt. Diese Kommunikation zwischen Individuen durch Kunstwerke erweitert das Gefängnis von Raum und Zeit.
Heute leben wir in einer Zeit, in der diese Träume der Trennung von Botschaft und Bote technisch realisiert werden. Die Boten bleiben zu Hause und die Botschaften zirkulieren via Internet. Die technischen Künste sind die Praxis der Überwindung von Raum und Zeit. Die Künste sind Gedächtniskultur und mehr als diese, denn die Künste eröffnen zudem einen Raum des Möglichen. In einer Zeit der Krise, in der Menschen sich körperlich nicht zu nah kommen dürfen, also distanziert, entfernt, agieren müssen, spielen die Künste genau die Rolle, das Fehlende zu ersetzen, nämlich die Kommunikation, welche in Form der Nahkommunikation zur Zeit untersagt ist. Wir kommunizieren daher fernmündlich, fernschriftlich, wir unterrichten telematisch, wir konversieren telefonisch und halten Video-Konferenzen ab. Man ist physisch einsam, aber durch die kommunikative Funktion der Kunst, die im Augenblick telekommunikativ ist, gemeinsam.
Wie Sie richtig sagen, das Thema »Kunst- und Kultureinrichtungen im digitalen Zeitalter neu denken« wird in Baden-Württemberg dankenswerterweise schon lange intensiv diskutiert. Die jetzige Krise ist exakt der historische Moment, wo die Diskussion in die Praxis umgesetzt werden sollte und könnte. Wenn ich lese, welche Milliardenbeiträge mobilisiert werden, um eine historische und umweltschädigende Mobilitätsindustrie, von TUI bis Lufthansa, künstlich am Leben zu erhalten, würde ich es begrüßen, wenn ein Teil dieser Milliarden auch in die Zukunft investiert würde, nämlich an die kulturellen Anforderungen, die sich jetzt schon stellen. Es ist nicht zu leugnen, dass sich das Corona-Virus über die globalen Reiserouten von Touristen und Geschäftsleuten verbreitet hat, also via Massenmobilität. Für die Kultur heißt das, die Rolle des Publikums und dessen materielle Mobilität neu zu bedenken. Es gibt Kollektive, die sich in Bewegung setzen, um an einem Ort ein Ereignis zu zelebrieren (Konzerte, Sportereignisse etc.), sogenannte lokale, ortsgebundene Kollektive. Massen bewegen sich um die halbe Welt, um im Louvre ein Bild zu bestaunen, von dem sie eigentlich nichts verstehen. Sie erliegen dem Reiz der Aura. Doch diese Aura ist eine nur seit hundert Jahren konstruierte Fabel, die Walter Benjamin schon in den 1920ern als Fata Morgana kritisierte. Die Aura ist nach Benjamin ›die Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft.‹ Benjamin verwendet typischerweise hier das Wort ›Ferne‹. Die Aura ist der Schein der Nähe dessen, was fern ist. Kino, Theater, Konzertsaal und Stadien leben von lokalem Publikum, das sich bewegt, um sich an einem Ort einzufinden. Menschen kommen aus der Ferne und erleben im Stadium die Aura der Nähe. In der Hauptsache haben wir heute allerdings ein nicht-lokales Publikum, ein Kollektiv, das disloziert und individuell auf Millionen von Orten verteilt ist, vor dem TV-Bildschirm, vor dem Laptop, vor dem Smartphone anwesend ist und doch in der Ferne bleibt. Das lokale Kollektiv im Stadion bildet nur einen Bruchteil des nicht-lokalen Kollektivs vor den Bildschirmen. Nun erleben wir die Verhexung des Verstandes durch die Sprache. Man nennt nämlich die Fußballspiele ohne lokales Publikum ›Geisterspiele‹. Dabei sind die Zuschauer vor den Bildschirmen genauso real wie die Besucher vor Ort. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass sie nicht an einem Ort zusammengepfercht sind, nicht in Sitzreihen montiert wie auf Sklaven-Galeeren. Wenn also die Botschaft ohne die Körper der Boten übertragen wird, nämlich nur als Daten, erreicht das Spiel viel, viel mehr ZuschauerInnen.
Die Teletechnologien erweitern die Sphäre der Öffentlichkeit gigantisch. Nun müssen wir finanzielle Mittel einsetzen, um den Museen zu ermöglichen, dass auch sie nicht mehr allein an lokale BesucherInnen gebunden sind, sondern ebenso nicht-lokale Kollektive erreichen können. Das geschieht nicht nur durch digitale Vermittlung von analogen Objekten, sondern durch die Entwicklung von partizipatorischen und performativen Elementen mit dem nicht-lokalen Publikum. Zwischen 1890 und 1930 konnte man in Paris Konzerte zu Hause im Stereosound durch das sogenannte Theatrophon, eine Telefonschaltung, hören. Der Feingeist Marcel Proust hat diese Form des Musikhörens bevorzugt. Digitale Ferntechnologien ermöglichen eine mobile Bühne statt des üblichen Salontheaters, eine mobile Leinwand statt des Kinos, ermöglichen Reisen um die Welt, ohne dass ich meinen Körper bewegen muss. André Malraux’s Musée imaginaire (Le Musée imaginiare de la sculpture mondiale, 1952) könnte nun endlich realisiert werden. Die digitale Ferntechnologie erhöht auch die Freiheitsgrade des Besuchers. In den 1950er- und 1960er-Jahren war der Kinobesucher abhängig von der Programmgestaltung des Kinobesitzers, der wiederum in seiner Wahl unter dem Druck der Filmverleiher stand. Heute kann das Individuum entscheiden, welche Filme es sehen möchte. Es kann eine Auswahl treffen aus den gigantischen digitalen Archiven online. Dasselbe gilt für die Musik von Jazz bis Barockmusik. Die Auswahl wurde um ein Vielfaches gesteigert und damit sind die Freiheitsgrade des Individuums gewachsen. Digitale Teletechnologien ermöglichen also genau das, was ich zuvor bereits über die Funktion von Kunst gesagt habe: die Kommunikation zwischen Individuen in erhöhtem Maße. Was das Museum auszeichnet, ist seine Sammlung: Kunstwerke, die aus der Ferne stammend an einem Ort versammelt wurden, um sie vor dem Verschwinden zu retten. Ein Museum ist eine Arche Noah für Werke und Matrosen. Aber die Passagiere müssen nicht stets Platz auf dem Schiff finden, sondern können es auch virtuell besuchen.
Frage 3
Staatssekretärin: Sie werden am 22. Mai die Ausstellung „Critical Zones“ eröffnen – zum ersten Mal in der Geschichte planen Sie eine rein digitale Streaming-Eröffnung. Könnte dies ein Modell für die Zukunft werden oder sehen Sie auch Grenzen der Virtualisierbarkeit von Kulturereignissen? Lässt sich das analoge Live-Erlebnis von Kunst eins zu eins ins Digitale übersetzen?
Das Streaming-Festival zur Ausstellung Critical Zones, das sich über 3 Tage (vom 22. bis 24. Mai 2020) erstreckt, findet im realen und virtuellen Raum statt und dient in der Tat als Modell. Da aufgrund der Corona-Krise so gut wie keine Kunstwerke nach Karlsruhe transportiert werden konnten, hat das ZKM selbst ein großräumiges Observatorium nach Entwürfen des Künstlerduos Alexandra Arènes und Soheil Hajmirbaba gebaut. In diesem realen Ausstellungsraum werden sich einige KuratorInnen und KünstlerInnen bewegen. Wenn wir auf ein Kunstwerk treffen, das bereits vor Ort ist, können wir uns online mit dem Urheber des Kunstwerkes und einem Autor des Katalogs, der über dieses Kunstwerk geschrieben hat, verbinden. Wir schaffen eine Online-Plattform, einen aktualisierten Chatroom, indem sich viele Individuen begegnen können. So entwickelt sich ein dislozierter Dialog in Echtzeit, beispielsweise zwischen Karlsruhe, Paris und London. Die BesucherInnen können per Telegram-Chat mit dem Künstler, dem Kurator und dem Autor live diskutieren. Auf diese Weise entsteht eine neue Gemeinschaft ohne körperliche Anwesenheit. In der alten Welt, zum Beispiel im Theatersaal, gab es eine fiktive Gemeinschaft, eine Scheingemeinschaft, eine Gemeinschaft als Illusion, da ich ja mit den Sitznachbarn weder in der Pause noch während des Stückes gesprochen habe. Der Besucher war einsam und nicht wirklich gemeinsam. Im virtuellen Raum hingegen entsteht eine echte Gemeinschaft, eine Diskussion, eine Kommunikation zwischen Individuen, was ja das Ziel der Kunst ist. Statt des Round-Tables gibt es einen Net-Table, eine kulturelle Vernetzung vieler.
Darüber hinaus werden während des Streaming Festivals Filme, Vorlesungen und Vorträge zu sehen sein, die zu dem Thema der Ausstellung etwas Wichtiges beitragen, aber nicht direkt in das Ausstellungsprojekt involviert sind, beispielsweise Donna Haraway und der Nobelpreisträger Adam G. Riess. Wir erweitern also das Spektrum der Ausstellung, wir erweitern die öffentliche Sphäre von einem lokalen zu einem nicht-lokalen Publikum, wir erreichen damit mehr Menschen auf eine multisensorische Weise. Diese Form einer multimodalen, mehrdimensionalen Ausstellungseröffnung ist zwar viel anstrengender als eine reguläre Eröffnung auch deswegen, weil es uns an Personal und technischen Mitteln fehlt, aber sie bietet viele künstlerische und intellektuelle Optionen. Die Corona-Krise zwingt uns gewissermaßen, einen Schritt in die Zukunft der Digitalisierung zu setzen. Die Utopie wäre, das ZKM könnte eine eigene Sendeanstalt werden, so wie das ZDF. Hätten wir nur annähernd die finanziellen Mittel wie das ZDF, könnte das ZKM den etablierten Sendern tatsächlich Konkurrenz machen, denn wir verfügen über ein umfassendes Medienarchiv von visuellen und akustischen Werken und über ein globales Netzwerk von AutorInnen, MusikerInnen, KomponistInnen, KünstlerInnen und KuratorInnen. Was uns fehlt, sind die Produktionsmittel. Ich träume schon lange davon, dass wir mithilfe dieses Netzwerkes Onlinekurse für alle machen können.
Das ZKM ist ein Museum, das Wert auf die Partizipation des Publikums legt. Bei uns kann die Regel ›Bitte Abstand halten‹ nicht gelten, denn Partizipation heißt Teilnahme und wir fordern das Publikum auf, Dinge zu berühren, d.h. Schalter zu betätigen, über Displays zu wischen, auf Fahrrädern zu sitzen, Pflanzen zu berühren etc. Unser Gebot heißt ›Bitte berühren‹. Daraus entsteht die Gefahr von Schmierinfektionen. Wir können also einen großen Teil unserer Kunstwerke dem Publikum nicht zugänglich machen, da viele Kunstwerke interaktiv sind und über die Berührung der Schnittstellen die Kunstwerke zu Kontaminationspunkten werden, die das Publikum gefährden. Die Ausstellung Game Play lädt ja das junge Publikum direkt zum Spielen ein.
Das Paradox des ZKM ist es, einerseits das größte Fernmuseum und gleichzeitig das größte Nahmuseum zu sein. Eine extreme Nähe zu den Kunstwerken, nämlich die wechselseitige Berührung der Oberflächen des Kunstwerkes wie des Menschen gibt es fast nur im ZKM. Gleichzeitig gibt es im ZKM viele Datenwerken, die über den Bildschirm erlebbar sind, also rein virtuell.
Das soziale Experiment besteht darin, dass die Museen durch die erzwungene erhöhte Digitalisierung ihre kommunikative und edukative Funktion überdenken müssen. Wenn bisher als Direktive und Ziel gegolten hat: Kultur für alle, so ist die künftige Devise: Kultur von allen. Schon im 19. Jahrhundert hat der Dichter Comte de Lautréamont gefordert, die Poesie müsse von allen gemacht werden. Durch die digitalen Technologien ist es möglich, dass sich das Publikum an der Kreation von Kunstwerken beteiligt und sogar selbst Kunstwerke schafft. Digitale Technologie ist ja nicht nur eine Distributionstechnologie, die wie Schallplatten und Bücher Kunstwerke multipliziert und verteilt, sondern digitale Technologie ist auch eine Produktionstechnologie. Wenn bisher die Welt der Gelehrten wusste, dass sie auf den Schultern von Riesen stehen, nämlich ihren Vorgängern, so heißen diese Riesen heute Computer, in denen so viel Software gespeichert ist, die Menschen in kürzester Zeit ermöglicht, selbst kreativ zu sein. Die Trennung der Vergangenheit – hier ist der teure Industriefilm mit seinen innovativen Spezialeffekten, dort das billige Home-Movie ohne Spezialeffekte – wird keine unüberwindbare Kluft mehr sein. Die heutige Software, unterstützt von KI, wird die Kreativität beschleunigen.
Museen zeigten bisher in der Hauptsache Produkte und Objekte der Gestaltung, in die normalerweise nicht eingegriffen werden konnte. Im ZKM haben wir enorm zahlreich Kunstwerke gesammelt, die das Eingreifen des Publikums erfordern. Wir fördern bereits seit langem Ansätze der Kreativität des Publikums. Diese Erhöhung der Kreativität, der Bildung, des Wissens, der Innovation kann im Museum gefördert werden. Zusätzlich zur Gestaltung tritt dabei die Kodierung hinzu. Das Museum kann zu einem Ort werden, an dem die BesucherInnen etwas erfahren und lernen, das ihnen an keinem anderen Ort geboten werden kann. Diese Erfahrung liefern ihnen nicht allein die Kunstwerke, sondern die Kunstwerke sind die Plattform, das theoretische Objekt, aus dem heraus der Wissensprozess entsteht. Das Museum ist ja zum Teil eine Übereinkunft und Gewohnheit, welche die Demokratie von der Aristokratie und Bourgeoisie übernommen hat, nämlich das Zur-Schau-Stellen von Trophäen (Kriegsbeute, Zeugnisse des eigenen Reichtums). Das Publikum konnte diese gelegentlich bestaunen. Nun haben wir diese Schau-Häuser zwar einerseits demokratisiert, aber ihre Funktion ist teilweise noch dieselbe wie früher. Museen dienen zum Teil der Bewunderung auratischer Trophäen. Doch sogar Herbert von Karajan hat mehr Wert auf die Distribution von Kunst und weniger auf Aura gelegt. Er ließ für sich privat das beste Tonstudio einzurichten und hochqualitative CDs zu produzieren.
Das soziale Experiment, das wir gegenwärtig erleben, ist genau das: Kultur von allen für alle. Amateure spielen Musik auf Balkonen, DichterInnen und SängerInnen liefern ihre Botschaften von zu Hause an andere Haushalte unter Umgehung von Konzertsälen, Kinos und Museen. Diese Anfänge von Home-Art mögen noch schrecklich sein, aber alle Kunst braucht Zeit, um große Kunst zu werden.