Tierversuche werden auf absehbare Zeit ein unverzichtbarer Baustein im Methodenmix der Forschung bleiben, auch in der biomedizinischen Forschung. Im Sinne des Tierschutzes wie auch mit Blick auf die Qualität der Ergebnisse sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer darum bemüht, Tierversuche kontinuierlich zu verbessern, zu verringern oder zu vermeiden – ganz im Sinne des im deutschen Tierschutzgesetz verankerten 3R-Prinzips (Vermeidung, Verringerung und Verbesserung = Replacement, Reduction, Refinement – 3R).
Starke Partner in zehn Projekten
Gemeinsam mit dem bereits im Frühjahr 2020 gegründeten „3R-Center für In-vitro-Modelle und Tierversuchsalternativen“ in Tübingen/Reutlingen werden künftig vier weitere Zentren das Grundgerüst des „3R-Netzwerks Baden-Württemberg“ bilden: das „3R-Zentrum Rhein-Neckar“ der Universität Heidelberg mit dem Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, das „3R-US Netzwerk“ der Universität Stuttgart und des Robert-Bosch-Krankenhauses, das „CAAT-Europe“ (Center for Alternatives to Animal Testing in Europe) der Universität Konstanz mit der Johns Hopkins University und das „Interdisziplinäre Zentrum zur Erforschung von Darmgesundheit“ an der Universität Heidelberg.
Ergänzt wird das Netzwerk durch die im Jahr 2018 eingesetzte und vom Land kofinanzierte Juniorbrückenprofessur „Organ-on-a-Chip“ zwischen der Universität Tübingen und dem Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB in Stuttgart. Diese beschäftigt sich mit der Entwicklung und Anwendung von neuartigen Organ-on-a-chip-Systemen. Dabei handelt es sich um die Simulation von Organen als Zellkultur auf einem Chip.
Bundesweit einmaliges Netzwerk
Baden-württembergische Forscherinnen und Forscher wurden mehrfach für ihre Leistungen zur Verbesserung des Tierschutzes ausgezeichnet – so wurde 2020 beispielsweise der Tierschutzforschungspreis des Bundeslandwirtschaftsministeriums an Dr. Anne-Katrin Rohlfing vom Universitätsklinikum Tübingen verliehen. Der wichtigste wissenschaftliche Tierschutzpreis Deutschlands – der Ursula M. Händel-Tierschutzpreis der DFG – ging mit der Verleihung an Prof. Marcel Leist und Prof. Thomas Hartung vom CAAT-Europe in Konstanz im Jahr 2020 bereits zum sechsten Mal nach Baden-Württemberg.
Geförderte Projekte im 3R-Netzwerk BW
Bereits seit dem Frühjahr 2020 unterstützt das MWK das „3R-Center für In-vitro-Modelle und Tierversuchsalternativen“, das gemeinsam von der Universität Tübingen und dem NMI Reutlingen aufgebaut wird. Das 3R-Center Tübingen, für das eine neue W3-Professur für Organ-on-a-Chip Systeme eingerichtet wurde, soll als landesweites Querschnitts-Center Grundlagenforscherinnen und Grundlagenforschern im Land einen niederschwelligen Zugang zu neuartigen In-vitro-Modellen ermöglichen. Im Schwerpunkt „Replace“ wird eine Technologieplattform aufgebaut, die unterschiedlich komplexe In-vitro-Modelle – kommerziell erhältliche und bereits ausgetestete Prototypen aus der eigenen Entwicklung und der von Partnern – umfasst. Weiterbildungsworkshops für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Lehrmodule in Studiengängen sollen die Anwendung und Entwicklung der neuen Technologien mittel- und langfristig fördern. Darüber hinaus ist eine Informations- und Kommunikationsplattform geplant.
Die Geschäftsstelle des 3R-Centers Tübingen wird auch die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zwischen den neuen geförderten Vorhaben im 3R-Netzwerk und damit den Aufbau eines tragfähigen Verbunds unterstützen.
Das im Raum Mannheim/Heidelberg entstehende „3R-Zentrum Rhein-Neckar“, welches die Universität Heidelberg gemeinsam mit dem Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim verantwortet, ergänzt mit seinem Fokus auf „Refine“ und „Reduce“ den Tübinger Schwerpunkt ideal. Das 3R-Zentrum Rhein-Neckar verfolgt zunächst vier Hauptaspekte: Aufbau einer zentralen Datenbank für Tiermaterial, Aktivitäten in Weiterbildung und Lehre sowie Open Access, Hilfe zur Gestaltung neuer Experimente und Betreuung interner 3R-Forschungsaktivitäten.
Mit einem Schwerpunkt auf molekularer Diagnostik, Biomaterialien und Simulation werden im „3R-US Netzwerk Ex-vivo Tumorgewebe-Plattform als Ersatz für Tierversuche“ der Universität Stuttgart und des Robert-Bosch-Krankenhaus/Instituts für Klinische Pharmakologie neue Akzente für die Integration von Ingenieurwissenschaft in die biomedizinische Forschung gesetzt. Im Stuttgart Research Fokus SRF „Biomedical System“ ist die Etablierung einer vaskularisierten ex-vivo Technologie-Plattform geplant, welche die Komplexität und Heterogenität eines humanen Tumors (hier Brustkrebs und Eierstock) widerspiegelt, um die Erprobung neuer, zielgerichteter Therapeutika und Kombinationstherapien zu erlauben. Tumormodelle sollen aus Biomaterialien und Zellen mit 3D-Druckverfahren naturgetreu als Ersatzsystem für Tierversuche aufgebaut werden.
Langfristig sollen die ex-vivo gewonnenen Daten eine Basis für die Entwicklung von in silico Tumormodellen für die Simulation und Prädiktion therapeutischer Effekte bilden.
Das CAAT-Europe (Center for Alternatives to Animal Testing in Europe), das transatlantische Bündnis zwischen der Universität Konstanz und der Johns Hopkins University, wird sich mit dem Vorhaben „Forschungs- und Harmonisierungsmaßnahmen zur Förderung der Akzeptanz tierfreier neuer Ansatzmethoden in verschiedenen Interessengruppen (NAM-ACCEPT)“ in das baden-württembergische Netzwerk einbringen. Der Fokus liegt hier auf einer besseren in-vitro zu in-vivo- Übertragbarkeit, was besonders in Punkto Stofftransport von Wirkstoffen (Biokinetik) und deren gewollter und ungewollter Effekte eine hohe Relevanz in der Therapie hat. Zudem wird eine weitere internationale Standardisierung und Harmonisierung neuerer Methoden und der Datenverarbeitung angestrebt.
Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch werden in der Regel anhand konkreter Forschungsfragen entwickelt. Ein sehr anschauliches Beispiel hierfür ist die Arbeit am Interdisziplinären Zentrum zur Erforschung von Darmgesundheit (IZDG), welches an der Universität Heidelberg aufgebaut und auf 3R-Aktivitäten ausgeweitet werden soll. Die Beteiligten widmen sich der Erforschung von Darmerkrankungen. Konkret geht es um die personalisierte Analyse von Funktionsstörungen des Darmnervensystems anhand von Patientendaten und individueller in-vitro-Modelle. Langfristiges Ziel ist die Generierung patientenspezifischer 3D-Organoide, bestehend aus Darmepithel, Immun- und Nervenzellen, in welchen die individuelle Organfunktion nachgeahmt werden kann, um damit zu einem besseren Verständnis und zur besseren Behandlung von Darmerkrankungen beizutragen.
Komplettiert wird das 3R-Netzwerk durch folgende fünf Vorhaben aus Forschung, Aus- und Weiterbildung:
Überwindung translationaler Hürden – Verbesserung der Evidenz und des prädiktiven Wertes bei experimenteller Forschung, Universität Freiburg:
Hier soll ein systematischer, meta-analytischer Ansatz zur Detektion und Korrektur von momentan vorherrschendem „Publikationsbias“ entwickelt werden, um die Übertragung von präklinischen Studien zu Rückenmarksverletzungen in die Anwendung ohne zusätzliche Tierversuche zu verbessern.
Refinement in komplexen belastenden Versuchen an Mäusen, Universität Ulm:
Dieses Vorhaben wird die Versuche aus der Traumaforschung in Ulm begleiten und Refinement-Maßnahmen für Tiere, die durch Experimente oder die Zucht besonders belastet sind, etablieren und verbessern.
Charakterisierung und Weiterentwicklung heterotypischer 3D-Sphäroide aus Kopf-Hals-Plattenepithelkarzinomen, Universität Heidelberg:
Für die Etablierung individualisierter Therapien für Plattenepithelkarzinome sollen 3D-Sphäroide, die die Tumorarchitektur widerspiegeln, optimiert und weiterentwickelt werden. Dabei werden humanisierte Kulturbedingungen verwendet, um fetales Kälberserum zu ersetzen.
3R-BioMED-Lab, Hochschule Reutlingen:
Das Projektlernlabor BioMED für Studierende im Bachelorstudiengang Biomedizinische Wissenschaften soll erweitert werden um 3D-Bioprinting Methoden und ein Videorepositorium (Erstellung von YouTube Videos von und für Studierende), die praxisbezogene Wissensvermittlung sowie die Reflexionsfähigkeit ethischer und rechtlicher Aspekte von Tierversuchen. Dies soll zu einer vertieften Ausbildung im 3R-Bereich für angehende Absolventinnen und Absolventen führen.
„5R-Kurse (Reduction, Refinement, Replacement, Rigour and Reproducibility)“ zur Verbesserung der Qualität von tierexperimentellen Studien in der biomedizinischen Forschung, Universität Ulm:
Ziel ist die Etablierung und Durchführung anerkannter, zertifizierter „5R-Kurse“ zur Verbesserung der Qualität von Tierexperimentellen Studien in der biomedizinischen Forschung. Die Kurse werden den gesamten Animal Welfare-Bereich im Tierversuch abdecken mit zwei Schwerpunkten: (1) Belastungen im Tierversuch erkennen und reduzieren und (2) zeitgemäßes Qualitätsmanagement im Tierversuch zur Steigerung der Reproduzierbarkeit von Tierversuchen und der Translationsquote. Die Kurse wenden sich an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Tierschutzbeauftragte, Tierhausleiterinnen und -leitern und Behördenvertreterinnen und -vertretern.
Universität Konstanz: Center for Alternatives to Animal Testing in Europe (CAAT-Europe)
3R-Center Tübingen: Das 3R-Netzwerk Baden-Württemberg
3R-Netzwerk Baden-Württemberg – Zahlen, Daten & Fakten (PDF)
Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Tierschutzforschungspreis 2020
Landesportal: Tierschutzpreis für Konstanzer Wissenschaftler
Interdisziplinären Zentrum zur Erforschung von Darmgesundheit (IZDG)